Gedanken zu nachhaltigen Stoffen

Gerade kreiere ich die neuen Modelle für Frühling/Sommer. Ich produziere keine herkömmlichen Kollektionen, ergänze jedoch die bestehenden Einzelstücke mit neuen Kleidern. Und schon stecke ich wieder in diesem Dilemma: neue Kleider produzieren und nachhaltige Stoffe. Ich habe mich entschieden, meine Gedanken aufzuschreiben und zu teilen, denn sie tauchen immer und immer wieder auf. Sie waren auch der Grund, dass ich lange Zeit gezögert habe, das Modelabel aufzubauen. Sie geben einen Einblick in die Komplexität jedes nachhaltigen Modelabels.

Am nachhaltigsten wäre es, nichts mehr zu produzieren. Da sind wir uns einig. Wäre das die Lösung? Ich weiss es nicht. Mode kreieren ist meine grosse Passion, die ich ausleben möchte. Aus diesem Grund habe mich entschieden, mein eigenes Modellabel zu gründen und habe aufrichtig das Ziel, möglichst nachhaltige Kleider zu produzieren. Doch was sind nachhaltige Stoffe?

_genügt es schon in kleinen Serien in der Schweiz herzustellen und zu schauen, dass keine Überproduktion entsteht?

_aus natürlichen Fasern, wie Leinen, Hanf, Bio-Baumwolle, Tencel und Bio-Wolle Kleider zu produzieren, welches grundsätzlich nachhaltige Stoffe sind und kein Mikroplastik im Abwasser landet?

_oder müssen diese Stoffe auch noch auf höchster Stufe zertifiziert sein? Ich würde es mir wünschen, dann hätte ich die Sicherheit, dass gewisse Umwelt- und soziale Standards eingehalten werden. Wie soll ich es sonst selber kontrollieren? Ich kann es nicht und muss vertrauen.

Ich muss der Stoffhändlerin vertrauen, die mir versichert, dass sie einmal jährlich zu den Lieferanten reise und regelmässigen persönlichen Kontakt zu den kleinen Produktionsstätten pflegt. Dies, weil ihr ebenso am Herzen liegt, dass umweltfreundlich produziert wird und dass die Mitarbeitenden fair bezahlt werden. Was heisst das? Wie kann ich sicher sein, dass es so ist? Diese Sicherheit gibt es leider nicht. Genügt mir nun ein gutes Bauchgefühl und das Vertrauen das ich habe? Oder fehlt es nicht doch am GOTS-Zertifikat, das mir zusätzliche Sicherheit geben kann?

GOTS (Global Organic Textile Standard) ist als weltweit führender Standard für die Verarbeitung von Textilien aus biologisch erzeugten Naturfasern anerkannt. Auf hohem Niveau definiert er umwelttechnische Anforderungen entlang der gesamten textilen Produktionskette. Des Weiteren fordert das Zertifikat die Einhaltung von wichtigen Sozialkriterien ein. Die Qualitätssicherung erfolgt durch eine unabhängige Zertifizierung der gesamten Textillieferkette, was zu hoher Glaubwürdigkeit führt. Möchte ich direkt von Stofflieferanten GOTS-zertifizierte Stoffe beziehen, muss ich pro Stoff und Farbe grosse Menge beziehen. Aber ich möchte ja keine Überproduktion machen.

Soll ich nun Reststoffe von klassischen Designerstoffen brauchen, die nicht mehr verwendet werden? Dann müssten keine neuen Stoffe hergestellt werden. Das wäre grundsätzlich perfekt. Bei diesen Stoffen wiederum wurde aber nicht auf die Umwelt und auf faire Arbeitsbedingung geachtet. Der Stoff fühlt sich damit für mich nicht gut an. Mein Bauchgefühl ist schlecht. Ich verzichte bewusst auf diese Stoffe.

Am liebsten würde ich nur noch auf vertrauenswürdige Zertifikate (wie GOTS) setzen. Aber meistens sind das Produkte aus Bio-Baumwolle. Baumwolle braucht aber mehr Wasser als bspw. Leinen oder Hanf. Leinen und Hanf sind von Grund auf nachhaltiger Stoffe als Baumwolle. Ist es nun besser ein zertifiziertes Bio-Baumwollprodukt zu verwenden oder ein Leinenstoff ohne GOTS-Zertifikat?

Ist es besser Schweizer Leinen von Emmentaler Flachs zu verwenden, der nicht zertifiziert ist aber aus der Schweiz stammt und hochwertig verarbeitete wurde. Und diesen Stoff bei Colora in Huttwil färben zu lassen. Ohne Zertifikat. Oder nehme ich besser einen Stoff aus dem Ausland, der bereits gefärbt und GOTS zertifiziert ist?

Wäre es besser, ich würde GOTS-zertifizierten Stoff in Indien einkaufen, dort die Kleider gut bezahlt nähen lassen und dazu noch die Frauen in Indien unterstützen? So hätte ich diverse Kriterien von Nachhaltigkeit erfüllt. Aber da bleibt der Transportweg. Und habe ich in Indien die Sicherheit, die ich mir wünsche? Wie transparent sind die Prozesse? Ich müsste sicher auch selbst nach Indien reisen, was momentan für mich nicht möglich ist. Und entspricht mir das überhaupt? Ist das wirklich mein Wunsch? Nein. Ich fühle, dass ich möglichst lokal produzieren möchte.

Welcher Stoff ist also nachhaltiger?

_der GOTS-zertifizierte, der vom Griff her nicht optimal zu meiner Idee passt, 100 % aus Bio-Baumwolle ist und viel Wasser braucht?

_oder der Stoff aus 100 % Leinen mit Oeko Tex-Zertifikat, welcher vom Griff her genau zum Kleidungsstück passt und mir als Designerin besser gefällt?

Verzichte ich auf meine Idee nur wegen der Zertifizierung des Stoffes? Ich bin unsicher. Diese Frage habe ich mich vor zwei Jahren schon gestellt, vor einem Jahr, vor einem halben Jahr. Was soll ich tun? Ich muss mich entscheiden. Immer und immer wieder entscheiden. Die Freude verschwindet in diesen Momenten. Es sind so viele Gedanken in meinem Kopf. Das lähmt und hindert mich im Moment weiterzumachen. Es gibt niemand, der mir diese Entscheidungen abnehmen und das Dilemma auflösen kann. Darf ich mein Label überhaupt «nachhaltig» nennen? Das weiss ich in diesen Situationen und nach all diesen Gedanken nicht mehr und bin überfordert.

«Verliere den Humor nicht – Mode soll vor allem auch Spass machen!» hat meine Dozentin damals gesagt. Vielleicht nehme ich alles zu ernst, aber es liegt mir am Herzen, meinen Teil zum Wandel beizutragen. Ich finde mich damit ab, dass ich noch nicht an diesem Punkt bin, wo ich gerne sein möchte.

Es ist ein Prozess. Heute denke ich und entscheide ich mich so. Morgen vielleicht anders. Wir sind dran. Jeder auf seine Art und Weise. Hauptsache wir gehen einen Schritt vorwärts in eine nachhaltigere Zukunft.

Würdet ihr den Leinenstoff ohne GOTS-Zertifikat nehmen? Ich freue mich über eure Kommentare.

1 Kommentare

  1. hey livia, selbstverständlich würde ich den leinenstoff ohne gots zertifikat nehmen. es ist eine ähnliche fragestellung wie mit den bio lebensmitteln: soll ich bio erdbeeren aus israel kaufen (wenn es keine schweizer bio erdbeeren gibt) oder doch die, die der bauer wenige km von uns entfernt angebaut hat? diese haben zwar kein bio label aber wurden lokal angebaut und es entstehen keine grossen transportwege. auch bin ich bei schweizer produkten sicherer, dass diese in bezug auf die löhne und arbeitsbedingungen fair produziert wurden. somit entscheide ich mich im täglichen leben bspw. immer wieder für nicht-bio weil ich diese produkte genau in diesem speziellen fall dann als nachhaltiger erachte.
    ich denke, es ist wichtiger, nicht immer 100 prozent konsequent zu sein (gots), aber dafür mit gesunden menschenverstand zu entscheiden und das gesamtbild zu betrachten. meistens ist es nämlich sowieso schwieriger, auch ab und zu mal eine „ausnahme“ gelten zu lassen, als immer konsequent zu sein.
    in diesem sinne: vertraue dir und deinem bauchgefühl. es ist dein label und es wird niemand gezwungen, kleidungsstücke von dir zu kaufen. liebe grüsse

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